Preis für Margarethe Mehring-Fuchs

Laudatio von Michael Kaiser, Junges Theater Freiburg:

Liebe Margarethe,
Sehr geehrte Damen und Herren der Jury,
Liebe Kollegen, Freunde und Gäste,

meine Geschichte mit Margarethe Mehring-Fuchs beginnt im Jahr 2006, als wir – Intendantin Barbara Mundel und Team – die Arbeit am Theater Freiburg begonnen haben. Damals waren wir auf der Suche nach Kooperationspartnern in der Stadt. Wir wollten mit Menschen zusammenarbeiten, die vor Ort lebten und gemeinsam mit uns ungewöhnliche Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen auf die Beine stellen konnten.

Meine Kolleginnen, Kollegen und ich hatten zuvor die Dokumentarfilme »Die Judenschublade« und »Zwischen Rap und Ramadan« gesehen und waren begeistert davon, wie es dem Duo Mehring-Fuchs und Stephan Laur darin gelang, junge Menschen zu porträtieren, ihnen außergewöhnlich nahe zu kommen und ihre Geschichten auszuloten, sie dabei aber nie auszustellen oder vorzuführen.

Im Film »Die Judenschublade« zeigen die Filmemacher, wie junge Juden im Jahr 2003 in Deutschland leben, wie sie mit ihrer Geschichte umgehen und sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzen. »Zwischen Rap und Ramadan« entstand zwei Jahre später und gewährt einen Einblick in die Lebenswelt von vier jungen Freiburgern muslimischen Glaubens.

Mein erstes Treffen mit Margarethe fand im Theatercafé statt. Nach der Begrüßung kam sie ohne größere Umschweife auf den Punkt: »Also«, sagte sie, »ich hätte da Ideen für zwei Theaterstücke mitgebracht …«

Worte wie diese – »da hätte ich schon ein oder zwei Ideen« – sollte ich in den nächsten Jahren noch oft von ihr hören. Sie schlug mir in diesem Gespräch vor, in einem Projekt gesunde und an Krebs erkrankte Jugendliche zusammen zu bringen. Oder, Projektvorschlag Nummer 2, die Situation von in Freiburg lebenden Roma-Jugendlichen zu thematisieren. Nachdem sie mir erläutert hatte, wie sie sich das Vorgehen in dem einen oder anderen Fall vorstellen würde, war ich restlos begeistert und meinte: »Okay, dann machen wir in der nächsten Spielzeit das eine und im Jahr darauf das andere Projekt!«

Mein Gefühl war, dass mir hier eine Frau gegenüber saß, die genau wusste, wovon sie sprach. Die sich bewusst war, welche Gemengelage und Schwierigkeiten Projekte wie diese mit sich bringen würden. Die sich aber auch – und davon hatte sie mich im Laufe unseres Termins überzeugt – mit genug Erfahrung, Mut und Herz in den Prozess begeben würde. Dieses Gefühl sollte sich bewahrheiten, als wir im Herbst / Winter 2007 das vielbeachtete Theaterstück »Kennwort: Hoffnung« erarbeiteten, gefolgt von »Carmen now!«, das ein Jahr später Premiere im Werkraum hatte.

Bevor Margarethe Mehring-Fuchs jugendkulturelle Film-, Musik-, Tanz- und Buch-Projekte realisierte und den Verein »Element 3« mitbegründete, ging sie zunächst einen anderen Weg: Sie studierte Sozialpädagogik und machte eine Ausbildung in systemischer Familientherapie. Bald jedoch bemerkte sie, dass sie in diesem Berufsfeld zu wenig mit den Menschen bewegen konnte: »In diesem Bereich wird immer noch sehr viel ›betreut‹. Es geht meistens um den Aspekt Hilfe. Ich finde das nicht immer richtig. Jeder hat seine eigene Verantwortung. Seine Würde.«

Daher widmete sie sich Anfang der Neunziger Jahre zunehmend der Kulturarbeit mit jungen Menschen. Erstmals für überregionales Aufsehen sorgte 1994 ihr Theaterprojekt »Gestern war heute noch morgen«, in dem sie etwas tat, das zunächst so unwirklich klingt, dass man es kaum glauben mag: Sie brachte tatsächlich auf ein- und derselben Bühne Skins, Linke, Asylbewerber und Schüler zusammen, alle zwischen 14 und 20 Jahre alt.

»Am Anfang«, berichtete Margarethe damals in einem Interview mit der »Zeit«, »kamen die bewaffnet bis an die Zähne. Die hatten absoluten Schiss voreinander.«

Welche Spannungen da im Raum gewesen sein müssen, kann man sich lebhaft vorstellen. Und im selben Moment fragt man sich: Ja, aber warum eigentlich nicht? Warum nicht gewaltbereite Rechte, Linke und Ausländer gemeinsam in einem Theaterstück? Weil so ein Unterfangen komplex ist. Weil die Situation eskalieren könnte. Weil es Widerstand geben könnte, auf der Seite der Spieler, aber auch auf der Seite der Presse, der Geldgeber und der Zuschauer.

Margarethe Mehring-Fuchs ist jedoch keine Person, die ein Wagnis nur deshalb nicht eingehen würde, weil ein Unterfangen hochproblematisch zu werden droht. Gerade, wenn die Grundkonstellation besonders verfahren scheint, gibt es in ihren Augen umso mehr Bedarf, die Probleme auf den Tisch zu bringen und von Angesicht zu Angesicht zu klären. Das Setting ihrer Theaterprojekte bietet hierfür den Rahmen, in dem so etwas möglich wird. Und eines ist dabei sicher – das habe ich in den zehn Projekten, die sie an unserem Haus bis dato realisiert hat, jedes Mal erleben können: Aus diesen Prozessen kommt niemand so raus, wie er oder sie hineingegangen ist.

Ich möchte das eingangs erwähnte Theaterprojekt »Kennwort: Hoffnung« ein wenig ausführlicher vorstellen. Nicht nur, weil es das erste war, das Margarethe mit ihrem Team bei uns am Theater Freiburg realisiert hat. Für mich repräsentiert es nämlich zudem ganz hervorragend ihre besondere Arbeitsweise: Die Grundidee war also, mit gesunden und kranken Jugendlichen ein Stück über das Tabuthema »Krebs bei jungen Menschen« zu machen. Ich selbst durfte diese Produktion als Dramaturg begleiten und erlebte einen Prozess, der für mich bis heute beispielhaft dafür steht, wie authentische Theaterarbeit mit jungen Menschen aussehen kann – nein: aussehen sollte.

Die erste Prämisse war, dass das Leitungsteam die Arbeit nicht mit einem fertigen Stücktext und gesetzten Inszenierungsideen begann, sondern vor Ort in der Kinderonkologie der Uniklinik Freiburg forschte und in Gesprächen mit den Betroffenen die Fragestellungen herausarbeitete, die für die Befragten wirklich elementar waren. Es ging diesen Theatermachern im ersten Schritt also darum, zuzuhören und etwas zu lernen. Diese Erfahrungen wurden im nächsten Schritt mit der Gruppe in Improvisationen zu Szenen und schließlich zu einem Theaterstück verdichtet. Erstaunlich war für mich zu sehen, wie ernst das Team die Ideen der Beteiligten nahm und wie sehr es bemüht war, ihnen viel Raum in der Inszenierung zu geben. Hier ging es aufrichtig darum, biografisch-dokumentarisches Theater zu machen und die Jugendlichen und ihren Zugang zum Thema in den Mittelpunkt zu stellen – und nicht etwa darum, eine eigene, eine erwachsene künstlerische Vision mit jungen Menschen zu verwirklichen. Ich hatte bis dato noch nie mit Künstlerinnen oder Künstlern zusammengearbeitet, die diesen Grundsatz so konsequent vertraten wie Mehring-Fuchs, Laur und Ro Kuijpers, der die musikalische Leitung der Projektband »Die Pfleger« übernahm.

Margarethe hat ihre Vorgehensweise einmal in einem Interview sehr treffend umrissen: »In meiner Arbeit schaffe ich einen geschützten Raum. Ich muss Platz zum Atmen geben, damit ich was erfahre. Ich freue mich sehr, wenn ich dann merke, wie wohl sich die Menschen auf der Probe fühlen. Das ist die Voraussetzung, damit sie auf der Bühne etwas von sich preisgeben, das ist für mich Herzensbildung und das fehlt mir oft in der sogenannten. Kunst.«

Eine Frage, die bei einem Projekt wie »Kennwort: Hoffnung« zwangsläufig aufkommt, ist die, ob es nicht »die Zuschauer in ungebührlicher Weise zu Voyeuren« mache. »Kennwort: Hoffnung« hat diese Frage geschickt beantwortet, indem es den Voyeurismus selbst zu einem zentralen Thema der Aufführung gemacht hat. Die Situation krebskranker Jugendlicher wurde nämlich nicht nur von Jugendlichen dargestellt, die Zusammenführung der heterogenen Gruppe – Gesunde und Kranke gemeinsam auf einer Bühne – rückte den Blick der Zuschauer auf diese jungen Menschen in den Fokus. Denn in diesem Stück wurde vieles offen ausgesprochen, es wurde jedoch zunächst nicht aufgedeckt, welche Spielerinnen und Spieler nun gesund und welche krank waren. Die permanente Unsicherheit der Zuschauer im Hinblick auf diese Frage und das Nachdenken darüber, konfrontierte uns mit unserer eigenen Vorurteilsstruktur und machte uns bewusst, in welchem Maße Krankheit, Tod und Andersartigkeit in unserem Alltag ausgeblendet werden.

Es ist dieses Bewusst-Machen, das die Arbeit von Margarethe Mehring-Fuchs in besonderer Weise auszeichnet und unverwechselbar macht. Sie rückt das Verborgene ins Licht, lässt »sichtbar werden« und konfrontiert uns immer wieder mit uns selbst, unseren Vorurteilen und mit den elementaren Fragen des Lebens und des gesellschaftlichen Miteinanders.

Sie stellt unbequeme Fragen und legt den Finger immer genau dahin, wo es wirklich weh tut. Und vielleicht bemerken wir erst dann, dass da, unter ihrem Finger, überhaupt eine Wunde war – eine, die wir zuvor gekonnt übersehen oder ausgeblendet haben. Und wir erkennen, wie reinigend und heilsam es sein kann, sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, die sie in ihren Filmen, Theaterstücken oder Büchern aufwirft.

Sie holt Theaterbesucher aus der »Wohlfühlzone« des Kunst-Raums und bringt sie in das echte Leben. Wie in unserem gemeinsamen Theaterprojekt »Wie sind Deutschland«, in dem die Reise in und durch das Flüchtlingswohnheim Hammerschmiedstraße in Freiburg-Littenweiler führte.

Am Premierenabend vor rund einem Jahr stand ich irgendwann etwas abseits und schaute auf eine fast unwirkliche Szenerie: Wir hatten quer über den Hof des Wohnheims eine lange Tafel gebaut, die mit weißen Tischdecken und edlen Kerzenleuchtern in Silber gedeckt war. Eine Roma-Band spielte, Bewohner und Nicht-Bewohner tanzten gemeinsam, ausgelassen bis tief in die Nacht, und es wurden gebratene Hammel verspeist.

Und da dachte ich: Wir feiern heute Abend nicht nur eine gelungene Premiere – hier und jetzt findet etwas beinahe Magisches statt, so etwas wie ein Moment der Utopie. »Frau Margaritha« – wie sie viele der Bewohnerinnen und Bewohner nennen – gelingt es, Menschen zusammen zu bringen, die sich sonst nie begegnet wären. Und ihr gelingt sogar das Kunststück, einen so tristen Ort wie ein Flüchtlingswohnheim strahlen zu lassen. An diesem 5. Juli 2013 waren viele Bewohnerinnen und Bewohner stolz darauf, Gastgeber sein zu dürfen. Nicht das Defizitäre oder die Probleme standen im Vordergrund, sondern die Qualität der Begegnung verschiedener Kulturen, unterschiedlicher Menschen.

Oder, um es mit Margarethes Worten zu sagen: »Meine Philosophie ist, dass wir nur eine Welt haben und mit der müssen wir leben. Theater ist eine Form, bei der ich die Möglichkeit habe, der Öffentlichkeit den Reichtum einer Kultur zu vermitteln.«

Diese Philosophie – »nur eine Welt, mit der wir klarkommen müssen« – lieferte 2003 den Titel für das Musiktheater »United World Dot Com«, in dem behinderte und nicht-behinderte Jugendliche die Entstehungsgeschichte der Erde mit ihrer eigenen Phantasie überschrieben.

Für mich persönlich ist das Moment der Phantasie ein weiterer wichtiger Punkt, der Margarethes Projekte auszeichnet: Gemeinsam mit den Beteiligten sucht sie nämlich stets nach »Möglichkeitswelten« und zeigt uns, dass »1 + 1« nicht immer »= 2« sein muss, sondern auch einmal »= lila« sein kann. Und das sind dann eben auch jene Momente, wenn man im Zuschauerraum sitzt und eine Gänsehaut bekommt. Weil man spürt, dass die Phantasie Fenster aufgehen und eine Welt jenseits des Bekannten sichtbar werden lässt. Wenn z.B. im Ballett »Bärensee« Tänzerinnen und Tänzer von XS bis XXL zeigen, dass jeder Körper schön sein kann. Oder wenn ein deutsches Mädchen aus Freiburg-Wiehre im Stück »Carmen now!« das Lied »Ederlezi«, die Hymne der Roma, singt – fehlerfrei, auf Romanes.

Neben dem Schicksal der in Freiburg lebenden Flüchtlinge hat Margarethe übrigens auch das Thema »Leben und Sterben« konsequent weiterverfolgt, wie im Dokumentationsfilm »Planet Hoffnung« oder im Musiktheater »Smiling Doors« an der Staatsoper Stuttgart. Zuletzt begleitete sie zusammen mit Kathrin Feldhaus kranke Kinder und Jugendliche in der Uniklinik Tübingen über den Zeitraum von einem Jahr. Die Gedanken und Bilder dieser kleinen und großen Lebensphilosophen veröffentlichten die beiden Autorinnen Anfang des Jahres im Buch »Ich hab jetzt die gleiche Frisur wie Opa«.

Mit dem Berndt Koberstein Preis werden »Projekte, Personen oder Organisationen ausgezeichnet, die mit beispielhaften Aktivitäten in besonderer Weise zu einem guten Zusammenleben und einem solidarischen Miteinander beitragen. Es sollen Initiativen gewürdigt werden, die das Eigen-Engagement von Menschen für ein gutes Miteinander-Leben fördern, die Ausgrenzung bekämpfen und Inklusion befördern«. Aus meiner Sicht könnte man die Arbeit und das Wirken von Margarethe Mehring-Fuchs kaum treffender auf den Punkt bringen – denn sie arbeitet nicht nur im Sinne eines guten Miteinanders und gegen Ausgrenzung, sie lebt diese Ansätze 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Mit Haut und Haar. Mit unendlicher Hingabe und der kompletten Skala möglicher Emotionen. Mit Neugier auf Menschen und ihre Geschichten. Sie liebt das pralle Leben mit all seinen Widersprüchen und scheut sich auch nicht, dem prallen Sterben zu begegnen und es in ihrer Arbeit zu reflektieren.

Es gelingt ihr, diese schwierigen Themen stets auch mit Augenzwinkern und Humor zu kontrastieren: In ihren Projekten liegen Lachen und Weinen daher oft nah beieinander und lassen sich am Ende gar nicht mehr recht voneinander trennen. So wie im echten Leben bisweilen auch.

Margarethe, ich gratuliere dir zu diesem Preis – und bedanke mich für die vielen Möglichkeitswelten, die du mir in unseren gemeinsamen Projekten gezeigt hast.

Herzlichen Dank.